Marco Michalzik: Vom Empören

“Angry people are not often wise.”
Jane Austen

Noch bevor ich die Gelegenheit hatte, mir die über vierstündige Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Paris anzuschauen, waren meine sämtlichen Social-Media Feeds bereits mit Empörung geflutet. Ähnlich wie bereits nach dem Eurovision Song Contest war da auch wieder alles dabei: von verletzten religiösen Gefühlen, über Empörung und Verletzung bis hin zu abstrusen Verschwörungserzählungen, die sich auch nicht zu schade waren, noch so weit hergeholte und zurechtgebogene Zeichen und Symbole vorwärts oder auf dem Kopf oder bei Mondschein gelesen oder rückwärts abgespielt, als wie auch immer geartete satanische Botschaften zu identifizieren. Drunter geht es scheinbar nicht und knallt ja auch so schön.

 Aufhänger war neben dem fahlen Pferd, in dem einige ernsthaft den Reiter aus der Johannes Apokalypse erkannt haben wollen, eine angeblich blasphemische Darstellung des letzten Abendmahls von Da Vinci. Eines Künstlers, der vermutlich selbst queer war.

Da wäre zunächst mal die Frage, seit wann sich die Christenheit darauf geeinigt hat, dass ein Gemälde plötzlich zum Kanon gehört und so etwas wie Heiligenstatus genießt? Lustig, dass hier auf einmal genau die Menschen auf die Barrikaden gehen, denen bildliche Darstellung von Jesus eigentlich von Hause aus suspekt sind. Und zum anderen, selbst wenn es eine Darstellung der Abendmahls-Szene gewesen wäre – wo genau war da die Blasphemie? Ich dachte, Christen glauben, dass an dieser Tischgemeinschaft Platz für alle ist und jeder Mensch, egal, woher er kommt und wer er ist, bedingungslos angenommen und willkommen ist. Offensichtlich gilt das dann aber nicht für Menschen aus der LGBTQ+ Bewegung. „Und wie können die sich überhaupt erdreisten, sich einfach selbst an den Tisch zu setzen, ohne uns zu fragen. Hier bestimmen immer noch wir, wer willkommen ist und wer teilnehmen darf und wer nicht!“ Anders kann ich es mir nicht erklären, wieso man sich darüber derart aufregt.

Wohlgemerkt wäre. Der Regisseur der Eröffnungsfeier Thomas Jolly hat danach nämlich klargemacht, dass es weder die Absicht war, religiöse Gefühle zu verletzten, noch, dass es sich überhaupt um eine Darstellung oder Anspielung auf das ‚Letzte Abendmahl Christi‘ gehandelt habe. Wenn überhaupt, spielt es auf ein anderes Gemälde, des niederländischen Malers Jan van Bijlert aus dem 16. Jahrhundert mit dem Titel „Fest der Götter“ an. Darauf ist ein ekstatisches Gelage rund um den antiken Gott Dionysos zu sehen. Das Szenario wäre also ein heidnisches, genauer: griechisches, was im Kontext der Olympischen Spiele auch sehr viel logischer erscheint.

Thomas Jolly sagt zu der Wirkungsabsicht der Inszenierung, dass er den ganzen Abend über in seinen Bildern Folgendes sagen wollte:

 „Wir glauben, dass die Dinge nicht zusammenpassen, wir wollen die Dinge in Schachteln packen, aber in Wirklichkeit entsteht, wenn diese Schachteln zusammentreffen, Schönheit, Emotionen, Freude.“

Meiner Ansicht nach ist das genau das, was Kunstschaffende tun sollten. Uns die Ränder und Grenzen unserer Gedanken- und Vorstellung-Schachteln zu zeigen und diese hin und wieder auch mal aufzubrechen und wenn nötig zu sprengen. Eine Spur zu legen, dass es außerhalb unserer Kategorie-Boxen viel mehr gibt. Mehr Schönheit, mehr Freiheit, mehr Entdeckens- und Dankenswertes. Mehr Leben. Mehr Vitalität. Mehr Liebe vielleicht sogar. Ich weiß das ziemlich gut, weil ich in sehr engen religiösen Denkmustern aufgewachsen bin und es besonders der Kunst, der Literatur, der Musik und der Lyrik verdanke, dass ich so manche Box erweitern oder aufbrechen konnte. Aber immer, wo das versucht wird, lässt die Empörung der Gatekeeper und Bewahrer der geraden Linien meist nicht lange auf sich warten.

Hier hätten etwas klassische Bildung und die Betrachtung des Kontextes durchaus geholfen. Und es war doch noch nie so einfach wie heute, kurz mal ein wenig zu recherchieren, bevor man seine Empörung dann amphorenweise an seine Follower ausschenkt. Trotzdem finde ich, selbst wenn es das ‚Letzte Abendmahl‘ hätte darstellen sollen (was es nicht tat) und selbst wenn die Absicht gewesen wäre, sich über Christen oder Religion oder religiöse Darstellungen lustig zu machen (was es ebenfalls nicht getan hat), selbst dann fände ich das völlig in Ordnung. Wer Religionsfreiheit sagt, muss auch Kunst- und Redefreiheit sagen, muss auch Gedanken- und Gewissensfreiheit meinen und muss es aushalten, dass es in einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft auch Menschen gibt, die der Religion kritisch, gleichgültig oder verächtlich gegenüberstehen. Ich meine, wir als religiöse Menschen haben in Vergangenheit und Gegenwart auch genug dafür getan, um Menschen den Glauben und die Religion unappetitlich zu machen.

Und guess what, genau das darf und muss formuliert und ausgedrückt werden (dürfen), wie andere ihren tiefen Glauben und ihre Religiosität. Ich habe irgendwo gelesen, Religionsfreiheit bedeute auch, Freiheit vor der Religion. Das sehe ich auch so und finde ich wichtig.

Setzt der Glaube an das Vorhandensein von Blasphemie nicht voraus, G*tt könne sich von einem menschlichen Kunstwerk oder einer menschlichen Handlung oder sprachlichem Ausdruck beleidigt fühlen? Und wäre das nicht ein unglaublich kleiner, armseliger, schwächlicher, jähzorniger Kindergartengott, an den ohnehin niemand glauben möchte? Also ich zumindest nicht.  

„Es gibt eine soziale Klasse in allen Industrievölkern, die vorzüglich durch diese Struktur charakterisiert ist: die untere Mittelklasse, das Kleinbürgertum oder – in einem soziologisch umfassenderen Symbol – der Spießer. Er kann geradezu charakterisiert werden – in welcher sozialen Klasse er auch vorkommt – als jemand, der sich durch die Angst, an seine eigene Grenze zu geraten und sich selbst im Spiegel des Andersartigen zu sehen, nie über das Gewohnte, Anerkannte, Festgelegte zu erheben wagte. Möglichkeiten, die jedem Menschen dann und wann gegeben sind, über sich hinauszukommen, ließ er unverwirklicht: ob es ein Mensch war, der ihn aus seiner Enge hätte herausreißen können, oder ein ungewohntes Werk der Kunst, das ihn hätte erschüttern können, oder ein Wort aus der Dimension des Ewigen, das ihm die Selbstsicherheit seines Daseins hätte umwerfen können. Um sich herum aber sieht er Menschen, die über die Grenzen gegangen sind, die er nicht überschreiten konnte. Und der heimliche Neid wird zum Haß.“

Paul Tillich

Wie das wohl ist,
die Steine in weiser Voraussicht bereits aufgesammelt
und blank poliert in die Taschen gesteckt zu haben
und jetzt verzweifelt auf eine Gelegenheit zu warten,
die auch werfen zu dürfen?

Wie das wohl ist,
ständig mit Wahrheits-Kieseln um sich zu schleudern und zu glauben,
der Begriff sei exklusiv für die eigene Überzeugung reserviert.

Wie das wohl ist,
selbst nach der Konfrontation mit Fakten die eigene Empörung
nicht mehr revidieren zu können und trotzig weiter auf einer Meinung zu beharren,
die sich vor aller Augen als haltlos herausgestellt hat?

Wie das wohl ist,
hinter jeder Fassade Verschwörung zu vermuten
und in jedem Gebüsch Teufel und Dämonen,
die scheinbar besonders gerne in Performances
und in Outfits und in Kunstwerken wohnen?

Wie das wohl ist,
die Mehrheit der Mitmenschheit als verloren anzusehen
oder böse oder dumm oder verkrümmt oder verblendet
oder verführt? Wie soll da jemals Augenhöhe und Respekt
zustande kommen?

Wie das wohl ist,
sich dann anschließend darüber zu wundern,
dass ich all das nicht sein möchte?  

Wie das wohl ist,
antike Texte und das menschliche Vorhandensein
durch die wacklige Lesebrille eines Engländers
aus dem 19. Jahrhundert hindurch zu lesen,
der reich geerbt und von seiner Verlobten verlassen,
genug Zeit hatte, um Entrückung zu erfinden?

Wie das wohl ist,
alles zum Ende hin zu hoffen,
das einen selbst strahlend bestätigt
und alle anderen ewig ignoriert
und lodernd verdammt
(und natürlich sagt das niemand laut,
aber ein bisschen freut man sich schon auch darauf)?

Wie das wohl ist,
so selbstverständlich G*tt in den Mund zu nehmen
und trotzdem scheinbar ständig
Angst zu haben, sich an seinem Geschmack zu verschlucken?
Angst zu haben, dass da mehr Kanten sind oder Gräten, als man weiß,
und man deshalb sicherheitshalber zaghaft an den Rändern nagend bleibt
und ständig Lieder drüber singt, dass man „mehr“ möchte?

Wie das wohl ist,
ihn mit Allmacht zu maskieren
und sich dennoch bemüßigt zu fühlen,
sich als sein Anwalt aufzuspielen?

Wie das wohl ist,
sich immer für die diskriminierte Minderheit zu halten,
und Verfolgung fast zu fetischisieren,
und die Minderheiten übersieht,  
die man selbst ausschließt und diskriminiert?

Wie das wohl ist,
sich so zu überhöhen, alles und jeden als Angriff oder Provokation
auf die eigene Gruppe wahrzunehmen,
während man im Selbstverständnis der kleine, treue Überrest ist?  

Glaubst du wirklich, die ganze Welt macht sich ständig Gedanken
über dich und wie man am effektivsten deine Gefühle verletzt?

Wie das wohl ist,
vor lauter Anprangerung anderer Anbiederung,
den Zeitgeist im eigenen Auge nicht mehr bemerken zu können?

Wie das wohl ist,
ständig ungefragt in seine Echokammer hineinzubrüllen,
wie sicher man sich seiner sei,
obwohl diese Art der Überzeugung
scheinbar ständig Bestätigung braucht,
um nichts ins stille Grübeln zu kommen?

Wenn das Fundament so fest ist,
warum habe ich das Gefühl,
dass die Wände ständig wackeln?

Wie das wohl ist,
ständig vor allem Angst zu haben,
und das dann als  
Warnung und Sorge zu verkaufen?

Und überhaupt,
warum wird da ständig so viel verkauft?
Wer vor Kunst Angst hat,
fürchtet sich vor dem Leben,
fürchtet sich vor Komplexität,
fürchtet sich vor authentischem Ausdruck,
fürchtet sich vor fremden Formen,
fürchtet sich vor Freiheit, die über die eigene hinausgeht,
fürchtet sich vor Ästhetik, die nicht der eigenen entspricht,
fürchtet sich vor Räumen, in denen man keine Deutungshoheit hat,
fürchtet sich vor Gefühl,
fürchtet sich davor berührt zu werden,
fürchtet sich davor bewegt zu werden,
fürchtet sich davor hinterfragt zu werden,
fürchtet sich vor dem Vielleicht,
fürchtet sich vor der unerwartet Pointe,
fürchtet sich vor den Plot-Twists
fürchtet sich vor Uneindeutigkeit,
fürchtet sich vor den Freiräumen zwischen den Zeilen,
fürchtet sich vor der Erkenntnis, dass die selbst gesetzten Grenzen nur im eigenen Kopf
existieren,
fürchtet sich vor dem Ergebnis des Selbstdenkens,
fürchtet sich vor dem Verrücktspielen der eigenen moralischen Kompassnadel,
fürchtet sich davor, dass Schönheit vielleicht doch nicht absolut ist,
fürchtet sich vor der ungeraden Linie,
und hält die gerade Linie nicht für gottlos,
sondern das Gegenteil.

Furcht, wenn sie echt ist,
kann ich vielleicht versuchen zu verstehen,
alles andere outet sich als Arschloch.

Wo die Angst vor anderen Narrativen überhandnimmt,
ist es nicht so weit, bis (wieder) Bücher verbrannt werden.
Verbannt werden sie ja jetzt schon (wieder).

Irgendwann hat vermutlich niemand mehr die Lust und die Kraft, Verständnis und Empathie und Toleranz aufzubringen für die, die sie ständig einfordern, aber anderswo mit Füßen treten.

Und ich sitze hier und tippe meine empörten Zeilen ins Reine. Ja, fuck, ich bin ebenfalls empört, stelle ich fest. Empört über so viel dumme Empörung, die nicht mal einen kleinen Schritt zurücktreten kann hinter ihre Selbstherrlichkeit, wenn sie entlarvt ist, und zumindest diese eine Mal zugeben kann, dass sie Quatsch erzählt oder wenigstens über das Ziel hinaus geschossen und sich im Ton vergriffen hat.

Und ich denke:

Selig die, die sich nicht angegriffen und bedroht fühlen, nur weil wer anders etwas anders sieht oder ausdrückt oder glaubt, als sie selbst.

Marco Michalzik
Marco Michalzik

Marco Michalzik aus Marburg ist Spoken-Word-Künstler, Lyriker und Songwriter.

Mit dem Musiker und Produzenten Manuel Steinhoff entwickelte er das Projekt #poetrymeetsbeats – eine Symbiose aus gesprochenen Texten und live gespielten, elektronischen Beats. Das Duo veröffentlichte bisher u. a. das Album„Ikarus“ und die EP „Insomnia“.

Er ist Workshopreferent zu den Themen Spoken Word, Kreatives Schreiben, Sprache und Spiritualität. Außerdem ist er Co-Host bei den Podcastformaten ART & WEISE (gemeinsam mit dem Musiker JONNES) und HOSSA TALK.

Zuletzt erschien sein erster Gedichtband “Alles wird ein bisschen anders” im Lektora Verlag.

Ein Kommentar

  1. Hallo Marco,
    Ja und Amen zu dem, was Du schreibst und wie Du es beschreibst. Ich empfinde viel der Empörung ebenfalls als entlarvend, vor allem in der Hinsicht, über was und in welchem Zusammenhang sich empört wird. Spießertum ist da die treffende Bezeichnung und deine Zeilen bringen vieles von der unreflektierten Kleingeistigkeit solcher Gruppierungen gekonnt ins Wort. Chapeau!
    Allerdings, ich muss sagen, dass ich mich ebenfalls geärgert habe, als ich die Kunstinstallation gesehen und erste Reaktionen darauf gelesen habe. Ich dachte mir: Och nee, nicht das schon wieder. Das ist so ermüdend und langweilig! Es ist doch immer dasselbe. Irgendwer „dekonstruiert“ irgendwo irgendwas und irgendwer empört sich irgendwo darüber und irgendwer feiert es irgendwo ab und findet es ganz toll und mutig und was weiß ich. Dann empört sich jemand über die Empörung und so weiter und so fort. Langweilig! Es ist wie in einem Tennisspiel. Aufschlag…“Gott ist queer!“ Langweilig! Aufschlag…Installation bei Olympia. Langweilig! Beide Spieler bespielen doch denselben Platz! Ich wünschte mir, jemand würde den Ball im Flug fangen und sagen: So, genug gespielt und ab ins Bett. Es ist spät und die Zuschauer können auch nicht mehr. Morgen überlegen wir uns ein neues Spiel.“, damit diese unfassbare theologische Langeweile mal endet. (Und nein, ich weiß nicht, wer dieser Jemand oder was dieses neue Spiel sein könnte, aber ich glaube, der Tennisplatz hier nennt sich Metaphysik).

    LG
    Jannik

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