Wahrheit.
Jeder hat eine.
Manch einer gibt sie auf oder weg. Oder macht sich eine neue. Sie ist ersetzbar, austauschbar geworden. Und dennoch hat jeder eine, zu jeder Zeit. Eine eigene Wahrheit.
Weil keiner will, dass ein anderer sie definiert, gibt es sie nicht mehr für alle gleich.
Genau das ist es, was mich an der Wahrheit ganz schwindelig macht. Wer hat recht?
Was ist das, Wahr-heit? Schon ganz andere sind vor mir daran verzweifelt.
Es gibt Richtlinien und Leitlinien und Lebenslinien, die vorgezeichnet sind und mir sagen, was war und wohin es führt. Es gibt immer eine Richtung, die vorgezeigt ist, aber ist es darum wahr? Nur weil es angelegt ist? Es gibt immer auch Abzweige und Weggabelungen und der Linie muss man nicht treu bleiben wie überhaupt auch sich nicht.
Wahrheit. Jeder hat eine. Oder zwei. Oder drei oder so viele Wahrheiten über sich wie nötig, um sich das Leben angenehm einzurichten. Verdichten sich nicht die Hinweise, dass es Authentizität gar nicht gibt, dass jedes Lächeln aus dem Kontext herausgenommen schon immer gleich eine Inszenierung ist? Es gibt das Echte nicht. Auch dies ist nicht echt. Es ist mir nicht möglich, ein Abbild zu schaffen von dem, was ich fühle über die Wahrheit, was du siehst, ist nicht mein Bild, wie es ist, sondern immer nur deins, das du hast, das in dir angelegt ist. Und wenn du mich siehst und meine Wahrheit, siehst du immer dich und das, was du sehen kannst, aus deinen Augen heraus.
Und so habe ich nichts als meine eigene Wahrheit. Und bleibe bei mir. Und kann nicht sehen, was im Anderen ist. Denn meine Wahrheit fängt mich immer wieder ein.
Und wenn ich sie nun verändern kann. Was setze ich gegen meine Wahrheit, die eben auch nur mein Eindruck von der Wirklichkeit ist?
Es strömt nicht nur in mich hinein, sondern ich drücke tat-sächlich im Wahrnehmen meine Wahrheit wie einen Stempel in das, was wir immer noch Realität nennen, hinein. Mein Eindruck ist immer auch der Druck, den ich als Grundlage für alles Weitere verwende. Und ich drücke meine Wahrheit in die Realität hinein. Jeder Ein-druck verändert die Realität und passt sie im Grunde an, an mich.
Ich werde vorsichtig mit meinem Wahrnehmen, weiß ich doch noch nicht, ob dies die Richtung ist, in die ich mit meiner Wahrnehmung den Verlauf der Dinge weiter mitbestimmen möchte. Es macht mich ganz schwindelig, wenn ich darüber nachdenke, wie unsere Wahrheiten eingreifen und durchgreifen und lenken und dabei miteinander kollidieren.
Ich traue mir nicht. Ich traue meinen Wahrheiten nicht. Ich traue dem Grund meiner Wahrheiten nicht, der Vorprägung, dem An-gelegt-Sein. Und ich traue den Wahrheiten nicht, die über mich und in mich hinein gesprochen worden sind, sagen sie doch immer mehr über den Sprechenden aus als über mich.
Und ich frage nach deiner Wahrheit, Gott. Ist denn deine Wahrheit anders? Anders als meine? Anders als unsere?
Und ich mache mich auf die Suche, Gott, nach deiner Wahrheit.
Und hier finde ich sie:
Deine Wahrheit durchströmt die Erde, sie durchströmt die Natur. Die Bäume atmen deine Wahrheit. Deine Kraft und Stärke, in unscheinbaren Wurzeln geboren, geleitet in starke Arme, die ganze Heerscharen von Vögeln beherbergen können und Schatten spenden dem Ruhesuchenden. Deine Wahrheit hält und hält aus und hält fest und stärkt und versorgt. Deine Wahrheit ist Kraft und Stärke, aus Wasser geboren.
Deine Wahrheit durchströmt die Erde und füllt sie aus. Sie fließt über Berge, tiefe Schluchten, Gebirgsketten, Flussläufe, sanfte Auen und schroffe Felsen. Deine Wahrheit ist Vielfalt, ist bunt und schön und laut und leise und schön und schrecklich. Und vor allem ist sie nie langweilig. Selbst das Eintönige deiner Erde ist aufregend, spannend, atmet Leben und überrascht. Deine Wahrheit berauscht, wenn man es zulässt. Sie ist berauschend schön und schrecklich zugleich.
Deine Wahrheit durchströmt die Erde und durchströmt die Menschen und füllt sie aus und hüllt sie ein. Sie umhüllt uns mit Freiheit. Wie mit einem hauchzarten Schal, und dennoch wärmend wie für eine sternklare Winternacht auf der Dachterrasse. Mitten in der Großstadt öffnet sich der Himmel über mir und schenkt mir Weite. Deine Wahrheit überrascht und ist so ganz anders als die Linien, die vorhergesagt und gezeichnet werden von Anfang an. Denn deine Wahrheit ist Liebe, aus Wasser geboren und aus Geist.
Und daran werde ich erkennen, ob es deine Wahrheit ist: an der Liebe und an der Freiheit. Denn die Liebe hast du als Erkennungszeichen gesetzt. Und Freiheit ist immer das Resultat deiner Wahrheit. Wenn es nicht frei macht, ist es nicht deine Wahrheit, dann will auch ich sie nicht. Denn meine Wahrheit, sagst du und schaust voller Liebe uns dabei an, meine Wahrheit wird euch frei machen. Ich nehme einfach deine Wahrheit. Denn deine Wahrheit ist die einzige, die mich meint und frei lässt.
Und ich werde sie suchen.
Und wir werden tanzen auf den Mauern, die in uns gezogen wurden. Wir werden die Arme ausbreiten und stehen bleiben dürfen, weil wir nicht mehr davonrennen müssen und nirgends ankommen. Wir werden stehen bleiben, uns durchstrecken, spüren wie der Nacken entspannt, Lasten fallen und wir werden tief durchatmen. Klar und rein, prickelnd und verstehend. Wir werden den Sommerwind auf der Haut spüren, und den Duft des Frühlings im Winter und können endlich mit dir das sagen, was du von Anbeginn dieser Zeit über uns aussprachst als erste aller Wahrheiten, als du uns schufst: „Es ist sehr gut.“