Micha Kunze: Brieffragment II

Draußen ist es Sommer,
ich sitz in einer neuen Stadt,
vor dem Schreibmaschinenalphabet
und einem leeren Blatt.
Ein zweites Mal schreib ich an dich,
es gibt so viel zu reden.
Uns trennen nur paar Jahre,
aber wirklich trennen uns Leben.
Ich hätt‘ niemals gedacht, dass in
so wenig Zeit so viel passiert.
Und manche deiner Sätze an dich selbst
so schnell Gewicht verlieren. 
Es stimmt, dass dieser erste
Brief von dir auch andere berührt.
Doch in den Zeilen an dich selbst,
bist du auch ziemlich hart zu dir. 
Du fühlst dich noch nicht angekommen,
weil du so viel im Außen lebst,
dich selbst vergisst und übergehst
und sagst, dass du da drüberstehst.
Hast deine Augen überall,
hast alle um dich rum im Blick.
Doch wenn du nur auf andre schaust,
dann übersiehst du dich.

Es braucht noch seine Zeit,
bis du verstehen kannst, was ich meine.
Die Schuhe der Anderen passen dir auch –
doch es sind nicht deine.
Und wenn du mal auf dich schaust und dann merkst,
dass das auch richtig ist,
dann tut es weh, wenn andre sagen,
dass du egoistisch bist.
Und dann kommt die Scham ins Spiel,
und dann Gewissensbisse.
Dann folgt die Wut
und sie schlägt zu,
dann kriegt deine Fassade Risse.
Dann bist du nicht mehr lenkbar,
und das stößt auf Widerstand.
Doch steh dazu und bleib bei dir,
genauso fängt die Freiheit an. 
Und du machst so furchtbar viel,
musst so viel leisten, nicht allein sein.
Weil die Geister unsrer Zeit
genau das in dich reinschreien.
In dir drin tausend Gefühle,
so viele kennst du jetzt noch nicht.
Es ist nicht fair, wenn deshalb nur
die Wut oder das Schweigen spricht. 
Drum lern dich kennen, hör dir zu
und finde Worte für dein Fühlen.
Und schau genau auf all die Dinge,
die in deinem Innern wühlen.

All die Sätze, die verletzend
mühelos in deine Seele tauchen,
zeigen auf die Stellen in dir drin
die heut‘ noch Heilung brauchen. 
Das Glück geht öfter, als es kommt,
du fragst, wo es geblieben ist.
Heut‘ weiß ich, dass das Wichtigste
nicht Glück, sondern der Frieden ist.
Du bist dir selber auf der Spur,
die ersten Schritte sind gemacht,
du hast so viel geplant,
doch es kommt anders als gedacht. 
Denn schon bald, da klopft die
große Traurigkeit an deiner Tür.
Und du suchst die Schuld bei dir,
dabei kannst du nichts dafür.

Und sie wird ‘ne Weile bleiben,
und sie lädt dich dazu ein,
den Blick nicht von dir wegzurichten,
sondern in dich rein.
Wirst manche Glaubenssätze
bald entziffern, manche nicht.
Sie sind oft falsch geschrieben,
haben nicht mal deine Schrift. 
Und es fühlt sich wie ertrinken an,
wenn unter dir der Boden naht.
Doch am Ende finden kann sich nur,
wer sich zuvor verloren hat.
Und dann nach viel zu vielen Wintern,
ganz allein, da wird dir klar:
die Menschen, die du grade brauchst,
die sind schon lange da.

Und die sind auf deiner Seite,
sind die, die sogar fragen.
Die für dich ein offenes Ohr
und Zeit und auch ein Sofa haben.

Dann mach mal nichts, und denk nicht nach,
auch wenn das ein paar Nächte braucht.
Zu Kräften kommst du nur da wo
dir niemand deine Kräfte raubt. 
Denn du willst schließlich alles,
nur nicht stehenbleiben, ja.
Doch wird dir so vieles
nur beim Stehenbleiben klar. 
Das Leben ist ein Drahtseilakt,
stehst auf den Seilen drauf.
Manchmal kommt der Wind und
wirft dich um
und manchmal bleibt er aus.

Und obwohl es stimmt,
so richtig hilfreich ist es nicht:
zu hör’n, dass nach der Nacht,
die du erlebst, wieder ein Tag anbricht. 
Könnt dir noch so viel schreiben,
wie ich dich heut wahrnehm.
Doch eigentlich will ich dich
jetzt nur einfach in den Arm nehmen.

Dir sagen, dass ich stolz drauf bin,
wie hart du um dich selber kämpfst.
Zu dem wirst, der das Gute und
nicht ständig seine Fehler nennt.
Du hast dich durchgebissen
und das Handtuch nicht geworfen.
Nur deshalb ist dein Du auch irgendwann
zu meinem Ich geworden. 
So viel wurde kritisiert
und so viel Gutes nicht gesagt.
Das ist der eigentliche Grund, warum
ich dir geschrieben hab.

Du machst das gut, pass auf dich auf,
die nächsten Jahre werden hart.
Doch heute schreibt dein neues Ich,
das sich dadurch gefunden hat. 
Ein Ende finden fällt mir schwer,
weil ich noch mehr Gedanken habe.
Doch vor allem möcht ich dir
aus tiefster Seele Danke sagen. 
Ich weiß, da wo du gerade sitzt,
bist du noch bisschen hoffnungstrist.
Vielleicht hilft’s dir zu wissen,
dass hier noch immer Sommer ist.
Ich schick dir ein bisschen Wärme
in deinen kalten Winter rein.
Nichts wiederholt sich ewig,
und bald wird alles anders sein.
Bald wird alles besser werden,
das wirst du noch erfahren.
Ich wünsch dir nur das Beste,
wir hören uns in ein paar Jahren.
Micha Kunze
Micha Kunze

Micha Kunze ist crossmedialer Redakteur, Autor, Lyriker und Spoken Word Artist. Geboren und aufgewachsen in Bietigheim-Bissingen lebt er derzeit nach dem sehr erfolgreichen Abschluss des Masterstudienganges „Theorien und Praktiken professionellen Schreibens“ an der Universität zu Köln ebendort.

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