Wie mächtig sind Träume?

Was mag das sein? Eine Landschaft, vielleicht? Ist dort, wo das Dunkle auf das helle Blau trifft, der Horizont? Welche Farbe hat das Dunkle überhaupt? Es ist eine Mischung aus Schwarz, aber auch Braun, Rot und Blau.

Brennt es weiter unten? Oder ist das Blut? Oder leuchtend rote Vegetation? Aber wieso versuche ich überhaupt, eine Landschaft oder etwas anderes Konkretes zu entdecken? Es ist doch einfach nur ein abstraktes Gemälde. Okay, vielleicht, aber immerhin sind dort unten skurrile weiße Figuren zu sehen, die doch ziemlich konkret sind, auch wenn nicht klar ist, was sie sein sollen. Kleine Tierchen, vielleicht, Außerirdische. Könnte doch sein. Außerdem erinnert mich die braun-beige Fläche eben auch an Erde, vielleicht Waldboden oder Acker, und wenn das da oben ein Horizont ist, dann ist er auch ‚dort hinten‘, dann lässt sich das Gemälde wie eine Landschaft und damit dreidimensional sehen.

Ich frage mich, ob die skurrilen Wesen über- oder unterirdisch leben. Vielleicht sind sie Bewohner dieser merkwürdigen roten Vegetation, vielleicht aber leben sie auch unterhalb davon. ‚So Still We Dream‘, das bedeutet: Wir träumen so still, wobei das englische ‚still‘ auch ‚noch‘ bedeuten kann: „Wir träumen also noch.“ Wer sind ‚wir‘? Die Tierchen? Oder sind ‚wir‘ tatsächlich wir, und ist das Bild, mitsamt seinen Tierchen, das, was wir träumen?

Ben Gencarelle ist ein Künstler, der in der Nähe von Aschaffenburg lebt und sein Atelier in Frankfurt hat. Er ist auf Rhode Island geboren und aufgewachsen und kam 2015 nach Deutschland, unter anderem deshalb, weil er die politische Stimmung in den USA als immer unerträglicher empfand. Ben hat Autismus. Und so beschäftigt er sich in seiner künstlerischen Arbeit, zu der Malerei, Zeichnungen, Sound und elektronische Arbeiten gehören, auch mit Neurodiversität, also mit der Frage, was es bedeutet, wenn man sich von Geburt an von der Mehrheit der Menschen unterscheidet, wenn die eigene Wahrnehmung und Informationsverarbeitung anders ist, als bei den meisten anderen.

Mir gefällt dieses Bild von ihm sehr. Das liegt daran, dass ich die Verbindung aus gestischer, abstrakter Malerei und Illustration mag, nicht nur hier, sondern ganz generell. Deshalb liebe ich auch Künstler wie Basquiat oder Twombly, ebenfalls US-Amerikaner, von denen Ben sicher beeinflusst ist, so wie ich auch. Das ist aber nicht der einzige Grund. Die Farbgebung erinnert mich an Bilder aus der Spätgotik oder Renaissance, wie dieses hier:

Hieronymus Bosch war ebenfalls ein Maler, der skurrile Figuren gemalt hat. Okay, anders als Ben. Ich habe ja auch nicht gesagt, dass Ben wie Bosch malt oder es auch nur versuchen würde. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Assoziation ihn überraschen würde. Jedenfalls ähneln sich nach meinem Empfinden die Stimmungen der Bilder.

Es ist schön zu träumen, jedenfalls manchmal, dann, wenn man von seinem Traumpartner oder seinem Traumurlaub träumt. Aber Träume können auch schrecklich sein, sie können furchterregende Visionen sein, wie sie es in den Bildern von Bosch oft sind.

Vielleicht drängen sich mir all diese Gedanken beim Betrachten des Bildes auf, weil wir im Moment fürchterliche Nachrichten aus Israel erhalten, nachdem wir uns vom Schock der Nachrichten aus der Ukraine noch gar nicht erholt haben. Es ist gerade nicht schwer, sich blutdurchtränkte, brennende Erde und dunkle Horizonte vorzustellen. Diese Tierchen oder Wesen wirken dagegen putzig, deplatziert, vielleicht auch wehrlos. Es sei denn, sie sind die Träumenden, es sei denn, ihre Träume sind mächtig genug, die Wirklichkeit zu verändern oder zumindest zu ertragen. Ich wünsche mir das. Ich hoffe, dass unsere Träume verändernde Kraft haben, und wir nicht irgendwann aus ihnen erwachen, um uns in einer schrecklichen Wirklichkeit wiederzufinden.

Du kannst dieses Bild ganz frisch im Cobains Erben WebMag finden. Aber nicht nur das. Es sind weitere großartige Beiträge erschienen. Zum Beispiel Marco Michalziks Text ‚Vom Beachten‚. Oder Tabitha Hanans Gedicht ‚Innenleben‘. Außerdem gibt es ein weiteres schönes Gemälde von Miriam Wahl zu bestaunen: ‚Goldrosa‚.

Schau doch mal auf der Seite vorbei und stöbere in aller Ruhe. Ich finde, es lohnt sich.

Gofi Müller
Gofi Müller

Gofi Müller, Jahrgang 1970, ist Autor, Künstler und Podcaster und lebt in Marburg an der Lahn. Er produziert, moderiert und verantwortet COBAINS ERBEN, malt, schreibt und gibt Lesungen. Zuletzt erschien sein Kurzgeschichtenroman 'Huchting – Geschichten von der Straße' im Adeo Verlag.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert