Gofi Müller: Wut

Wut
ist eine Beschützerin, sagst du
und noch ehe ich mich fragen kann
wie du das meinst
wundere ich mich darüber
dass sie für dich weiblich ist
bis ich merke, dass das schon
allein grammatisch richtig ist
doch unabhängig davon frage ich mich
ob das nicht auch
ein tröstlicher Gedanke ist
wenn sie nicht Wotan
sondern Wut ist
eine schwesterliche Fürstreiterin
Sie macht für dich
die Räume weit, sagst du
hält dich am Leben
Ah, sage ich, aha, okay?
Hast du dir denn, sagst du
Zeit genommen, um dich zu fragen
wie es dir mit allem geht?
Hm, nicht so wirklich, sage ich
nur in kleinen Dosen
Wenn ich mit dir spreche
sagst du, dann spüre ich
Wut
deine Wut
Sie ballt sich hier zusammen, sagst du
und hältst eine geballte Faust
vor deine Brust
Ich spüre das, sagst du
Mir wird davon ganz schlecht
dann lächelst du aufmunternd
meine Wut wachrufend
ich spüre in mich hinein
und tatsächlich:
da glimmt etwas
dunkel, vage schlummernd
es atmet flach und doch beständig
es fühlt sich an wie Tränen
die nicht wissen, dass sie fließen wollen
wie ein Schrei, der nichts bedeutet
aber alles sagt
Ja, sage ich und räuspere mich
stimmt, da ist wirklich was

Deshalb sitze ich jetzt hier
im Schatten einer Eiche
unter der alten Kirche
und blicke übers Tal
und suche meine Wut
während unten Autos rauschen
und Ziegen meckernd
an mir vorüber wandern

Wo bist du, schwesterliche Wut
die mir die Räume weitet
und mich am Leben halten will?
Ich komme gleich, sagt sie
wenn du dich ausgeruht
wenn du den Tränen
ihren Lauf gelassen hast
dann bin ich da
Du brauchst mich nicht zu suchen
Die ganze Zeit bin ich schon da