Besuch auf der Documenta 15 – Engagiert, konkret, erstaunlich spirituell

Die diesjährige Documenta hat für viel Wirbel gesorgt: Antisemitische Bilder sind aufgetaucht, Vorwürfe an einige Künstler*innen wurden laut, dass sie sich an der Boykottbewegung gegen Israel beteiligt hätten und dabei auch vor antisemitischen Äußerungen nicht zurückgeschreckt seien. Es ist sogar gefordert worden, die gesamte Ausstellung abzubrechen, zuletzt von Sascha Lobo im SPIEGEL. Wir reden über die Debatte, aber nicht nur über sie. Denn wir sind bei unserem Besuch zu dem Schluss gekommen, dass die Documenta sehr viel mehr zu bieten hat, als harte politische Auseinandersetzungen. Die dort gezeigte Kunst ist engagiert, sehr konkret und erstaunlich spirituell. Vor allem formulieren die Künstler*innen des globalen Südens eine sehr wichtige Botschaft an das europäische Publikum, von der wir hoffen, dass sie wahrgenommen wird. Aber hört selbst.

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4 Kommentare

  1. Bei Gofis Wunsch, dass alle Menschen gut leben und seiner Bemerkung, dass wir sehr europäisch blicken, musste ich daran denken, dass es nicht gut steht um die Welt. Ein Siebtel der Welt lebt in einer High-Tech-Diktatur mit Raubtierkapitalismus, die sich Kommunismus nennt. Ein Siebtel lebt in einer rückschreitenden hinduistisch-nationalistischen Konstruktion. Die sich gerade verabschiedende Weltmacht Nummer eins gibt sich teilweise zunehmends dem Wahnsinn und Irrationalismus hin. Fällt die alte Erzählung, dass alles immer besser wird? Müssen wir erkennen, dass das eine syteminhärente Logik ist, das System aber jederzeit durch ein anderes abgelöst werden kann? Ein „böses“ etwa?
    P.S.: Den Kollektivgedanken nehme ich auch mit. Gefährlich, aber wohl auch lohnenswert…

  2. Danke für das Gespräch, für die ehrlichen Gedanken und Überlegungen. Mein Besuch der Dokumenta 15 steht mir noch bevor, da ich mich erst vor kurzem entschlossen habe sie doch noch zu besuchen. Diese Folge war für also eine tolle Vorbereitung und Anregung mich auf die gezeigte Kunst einzulassen, haben mich die zuvor angeschaute Berichte verschiedener Berichterstatter*innen wenig überzeugt.
    Ich lasse mich also neugierig drauf ein…

  3. Zur Debatte um Antisemitismus/Luther/Fleischesser.
    Die Trennung von Künstler und Kunstwerk findet hier ihren Höhepunkt.
    Wie ist mit im Kunstwerk eingebauten Fehlstellungen umzugehen?
    Soll man sein eigenes Auge oder das des Künstlers zudrücken?

    Verquerer Schlenker:
    Omri Boehm geht in seinem aktuellem Buch „Radikaler Universalismus – Jenseits von Identität“ auf den Widerspruch in Kants Denken ein.
    Kant vertritt zum einen die Anschauung, dass jeder Mensch gleich geschaffen wurde; zum anderen finden sich in Kants Texten zahlreiche rassistische Bemerkungen.
    Boehm kommt zu der Beobachtung: „Dennoch besteht die derzeit übliche Reaktion auf diese Zitate nicht darin, Kant dafür zur Rechenschaft zu ziehen, dass er seinen eigenen Idealen nicht genügte; sie besteht vielmehr darin, seine Schwächen dazu zu nutzen, diese Ideale selbst zu delegitimieren.“ (S. 60)
    und später kritisiert er diese Haltung: „Kants zweihundert Jahre alte Anthropologie als irgendwie relevant für die kantische Moralphilosophie zu betrachten, ist nur aufgrund eines – gewollten oder ungewollten – Missverständnisses seiner wichtigsten Leistung möglich: dem durch eine metaphysische Abstraktion erreichen Ausschluss sämtlicher – anthropologischen, historischen, soziologischen, psychologischen, biologischen – Fakten vom Nachdenken über die menschliche Würde.“ (S. 61f.)

    Der Sachverhalt rund um Kant ist nicht 1:1 auf die angestoßene Debatte zu übertragen.
    Dennoch schwingt für mich hier die Botschaft mit, bei den Debatten rund um „Cancel Culture“ vorsichtig zu sein, da die Konsistenz des eigenen Denkens immer von faulen Kompromissen zusammengehalten wird, die erst mit der Zeit vollständig verfaulen.
    Diesen Punkt hat Jay mit seinem Fleischfresser-Argument gut veranschaulicht.
    Bei der Debatte rund um den Philosophen Kant war die Besonderheit, dass er seinen eigenen Idealen nicht genügte.
    Bei der Debatte rund um die Künstler steht die Frage im Raum, wie damit umzugehen ist, dass ein Kunstwerk offensichtlich den Grundwerten eines anderen Kulturkreises plump widerspricht, ohne dass das den Künstlern gewahr ist.

    Der Vorfall auf der Documenta hat für mich am Ende vom Tag dennoch ein kleines Geschmäckle.
    Die Kuratoren müssen in Deutschland darauf achten. Punkt.
    Und als Brückenschlag zu 300: Man kann Kunst scheiße finden. Und diese Kunst hat dann nichts im Klassenzimmer bzw. auf der Documenta verloren.
    Wenn das Kunstwerk im fremden Land gezeigt wird, kann „Deutschland“ es dennoch scheiße finden, aber wenig dagegen verrichten.
    Man verbietet nicht die Kunst an sich, sondern man macht deutlich, dass an diesem Ort kein Raum dafür gegeben ist – was so sophistisch es auch klingt, legitim sein muss.
    Ganz wie der Lehrer kann man dann nur versuchen, gegen die menschenverachtende Propaganda auf andere Art und Weise anzukämpfen.

    Zum Kollektivgedanken: Puh, An der Stelle ist mir Gofi zu euphorisch.
    Aber wenn überhaupt, wird es nur mit Euphorie gelingen.
    Wir legen also die 12.000 Piepen zusammen und die Welt hat neue Musik.
    Schön und gut – im wahrsten Sinne.
    Aber vor der Kunst kommt das Fressen. Also auch die in diesen Tagen viel diskutierte Energiekosten und Kosten für Wohnraum.
    Da nützt neue Musik in der Welt praktisch wenig; vllt wäre es auch besser gewesen die Tatkraft und Finanzen für ein soziales Engagement zu verpulvern. (Wir salben mit den 300 Sesterzen ja nicht des Herrn Füße 😉 – also sind solche Fragen erlaubt oder sollten es zumindest sein.)
    Es wird immer Kunst geschaffen werden, keine Frage.
    Der „wahre“ Künstler wird auch in den widrigsten Umständen seine Profession nicht aufgeben. und sei es dann tatsächlich als rein geistige Leistung, die sich nicht „materialisiert“.
    Aber wenn die nächste Rechnung reinflattert, bin ich über meine Netflix-Flatrate dankbar, weil ich sonst keine Kohle für Kunst mehr übrig habe.
    Und da kommen als allererstes die Kleinkünstler unter die Räder. So realistisch muss man da schon rangehen.
    Wenn Gofi den Kollektivgedanken durch die Documenta für sich entdeckt hat, ist es schön, aber dann braucht es auch Taten, um diese Einstellung mit Geist und Leben zu füllen.
    Für mich lautet daher die Anschlussfrage: Was kann Kunst verändern und was verändert Kunst tatsächlich?
    Und natürlich: Soll Kunst tatsächlich etwas verändern?

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